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Vom Glück des Schreibens

Warum steigt jemand unter Aufbietung aller Kräfte keuchend und schwitzend auf einen Berg? Warum läuft jemand beim New York Marathon, verausgabt sich, quält sich, um nur endlich die ersehnte Zielmarke zu erreichen? Ich vermute, aus einem ähnlichen Grund, weshalb ich Stunden um Stunden am Schreibtisch verbringe: Es ist der Wunsch, über die eigenen Grenzen zu gelangen – in physischer Hinsicht ebenso wie in kreativer und wohl auch in psychischer. Es ist dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, eine Herausforderung Etappe für Etappe zu meistern. Da ist zunächst das Unerwartete und Unbekannte, das einem unterwegs begegnet. Man kann eine Bergtour noch so sorgfältig planen – immer wird eine Situation auftauchen, die man so nicht vorhergesehen hat. So ähnlich verhält es sich auch beim Schreiben. Die Protagonisten entwickeln über kurz oder lang ein Eigenleben, neue Aspekte drängen sich auf und wollen berücksichtigt werden. Plot und Handlungsaufbau können noch so sorgfältig geplant sein, die Geschichte folgt schließlich doch ihren eigenen Gesetzen. Man weiß nie genau, was einen während des Schreibens erwarten wird. Da gibt es Irrwege, die korrigiert werden müssen, Worte, die sich sperren, an manchen Stellen kommt man einfach nicht weiter, muss Umwege in Kauf nehmen.Scheiben ist deshalb auch immer mit einem Stück Unsicherheit verbunden. Die muss man aushalten können. Schreiben ist für mich zunächst einmal ein sehr persönlicher Prozess. Doch ist es damit noch längst nicht getan. Denn schließlich und endlich soll das Produkt meiner Tätigkeit ja irgendwann an eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit gelangen. Auch dieser Moment ist für mich natürlich spannend. Auf welches Echo wird das, woran ich mit Herzblut geschrieben habe, stoßen? Auch diese Unsicherheit gilt es auszuhalten. Wenn eine Arbeit gut werden soll, braucht sie neben der emotionalen Beteiligung auch einen kühlen Kopf und schließlich und endlich den kritischen Blick von außen.

Neue Perspektiven

Der Bergsteiger wird für seine Mühen mit der Aussicht belohnt. Vom Gipfel eines Berges aus stellt sich die Welt anders dar. Nach Abschluss eines Buchs auch. So wie sich manches relativiert, während man läuft, so hat sich meine Realität mit der Abfassung eines jeden meiner Bücher verändert, weil ich mich schreibend verändert habe. Es sind die neuen Perspektiven, die die Horizonte verschieben. Mein Denken verändert sich. Schreiben bedeutet Freiheit für mich. Da ist zunächst die Freiheit, mich in verschiedenen Genres und an verschiedenen Themen nach Lust und Laune zu versuchen. Je nach Erzählperspektive nehme ich verschiedene Standpunkte ein, schlüpfe in unterschiedliche Charaktere. Schreiben ermöglicht mir aber auch, mich mental in andere Zeiten und an andere Orte zu versetzen. Ich muss gar nicht groß in die Welt hinaus, denn die Welt ist in mir. Vielleicht sollte ich sogar besser sagen Welten sind in mir - solche, die längst vergangen sind, und auch solche, die nie existiert haben. In manchen Situationen ist Schreiben für mich auch (psychisches) Überlebensmittel. Ich schreibe, also bin ich. Der Rückzug in mich selbst und meine Kreativität ist in schwierigen Situationen für mich auch eine Überlebensstrategie. Aus Worten webe ich mir meine eigene Welt, meinen Schutzwall gegen die Unbill draußen. Im Schreiben werde ich mir meiner selbst bewusst und gleichzeitig, das stelle ich immer wieder fest, selbstbewusster.

Wie komme ich zu meinen Stoffen?

Als Autorin werde ich immer wieder gefragt, wie ich eigentlich zu meinen Stoffen komme. Ganz ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Oft habe ich den Eindruck, dass gar nicht ich auf die Geschichten komme, viel eher kommen sie zu mir. Manche Geschichten drängen sich geradezu auf, ja sie schreiben sich fast wie von selbst. Da ist ein Zeitungsartikel, eine Anfrage, ein Satz oder Bild – und plötzlich entsteht quasi ohne mein bewusstes Zutun eine Szenerie in meinem Kopf, entwickelt sich eine Geschichte und drängt mich, sie niederzuschreiben. Mit anderen Stoffen ringe ich lange. Sie schlummern in mir, tauchen nur für Momente an die Oberfläche meines Bewusstseins und verschwinden dann scheinbar wieder. Ich kann sie nicht fassen, zumindest nicht in Worte fassen. Die Zeit scheint einfach nicht reif für sie zu sein. Manchmal bleibt ein begonnenes Projekt liegen. Es schlummert halb vergessen in der sprichwörtlichen Schublade, bevor es dann zack! ganz plötzlich und oft für mich selbst überraschend wieder aktuell wird.

Fest steht: Ein Buch mit leeren Seiten ist für mich jedesmal der Beginn eines Abenteuers.

© by Elisabeth Schinagl 2021

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