Mein Schwiegervater liebt die bayerischen Alpen, ich die Literatur. So vereinbaren wir einmal einen Familienausflug auf die Tuften, Thomas Haus in Tegernsee.
Zugegeben: Thoma gehörte bis dato nicht zu meinen Lieblingsautoren – ehrlich gesagt hatte ich bis zu diesem Ausflug noch nicht eine Zeile von ihm gelesen. Bekannt waren mir seine Lausbubengeschichten oder der Einakter Erster Klasse durch, gelinde gesagt, süßliche Verfilmungen, die Filserbriefe kannte ich zwar vom Titel, aber nicht inhaltlich, und Heilige Nacht war für mich einfach ein Text, der zur volkstümlichen bayerischen Weihnacht gehört. Niemals hätte ich vermutet, dass Thoma diese anrührenden Verse mitten in den Schrecken des Ersten Weltkriegs verfasst haben könnte.
1908 hatte sich Thoma vom renommierten Architekten Taschner das Haus in Tegernsee erbauen lassen, das man heute nach Voranmeldung besichtigen kann. Mein Schwiegervater ist gut mit dem Ehepaar befreundet, das das Haus betreut und auch selbst dort wohnt. Und wie und wo dieser bekannte Autor gelebt hat, das interessierte mich dann doch. So machten wir uns an einem schönen Sonntag im Juni auf die Fahrt.
In dem stattlichen Anwesen, oberhalb von Rottach gelegen und mit herrlichem Blick auf die Alpen, wurden wir schon erwartet und freundlich empfangen. Derartige Geburts- oder Wohnhäuser mehr oder weniger bekannter Literaten gibt es ja viele. Doch hier war die Atmosphäre nach meinem Empfinden eine ganz besondere. Der Reiz lag darin, dass wir nur halb offizielle Besucher, halb aber Gäste des Hauses waren, und so war es eben keine 'guided tour' im üblichen Sinne.
Nach einem kurzen Rundgang durch den weitläufigen Garten wandten wir uns dem Haus selbst zu. Wir begannen in der repräsentativen, elegant gehaltenen guten Stube, wo wir ein Album durchblätterten, das alle Träger der Ludwig-Thoma-Medaille verewigte. Die Stadt München hatte diese bis 1990 für Zivilcourage in der Öffentlichkeit verliehen, bevor Thoma wegen einiger seiner extrem konservativen und antisemitischen Äußerungen als Namensgeber für eine derartige Auszeichnung nicht mehr tragbar erschien. Wir entdeckten darin ein who is who der Münchner Künstlerprominenz. In diesem sehr offiziell gehaltenem Raum findet sich auch ein kurzer Abriss über Thomas Leben, der meinem Bild von ihm schon die ersten Kratzer verlieh: Der volkstümliche Autor war ein paar Jahre mit einer auf den Philippinen geborenen Tänzerin verheiratet. So viel Exotik hätte ich ihm nicht zugetraut! 1906 musste er wegen Beleidigung einiger Mitglieder eines Sittlichkeitsvereins durch ein Gedicht für sechs Wochen in Haft und dann ließ er sich auch noch mit einer verheirateten Frau ein, ein Verhältnis, das bis zu seinem Lebensende fortbestand.
Das war kein einfacher, bequemer Mensch, der eine heile Welt beschrieb, das war einer mit Brüchen, Ecken und Kanten. Einer, der nach mehrfachem Schulwechsel zunächst nach dem Vorbild seines Vaters Forstwirtschaft zu studieren begann, schließlich Rechtsanwalt wurde, um auch diese Tätigkeit wieder hinzuschmeißen und sich als Schriftsteller zu etablieren. Einer, dem es darauf ankam, Scheinmoral und gesellschaftliche Missstände mit beißendem Spott zu demaskieren.
Nachmittags gegen fünf verließ der Staatshämorrhoidarius die Kanzlei, schloß sich einem Gleichgesinnten an und spazierte auf dem Bürgersteige auf und ab, Fälle erwägend, Sätze abrundend, Deduktionen zum logischen Ende führend.
Eine Karawane von Paragraphenkennern pilgerte so zum Bahnhofe, grüßte sich, verlästerte sich, sagte sich Unkenntnis einer Bestimmung und Verkalkung nach und wartete ...
So beschreibt er die Lebensführung seiner Herren Kollegen, der Rechtsanwälte. Nein, das war keine Tätigkeit, in der sich Thoma auf Dauer hätte wiederfinden können. Das Geld für den Hausbau hatte er denn auch nicht mit seiner Anwaltstätigkeit verdient, sondern verdankte es dem Erfolg seines Theaterstücks Moral, das von Berlin aus, wo es 1908 uraufgeführt wurde, seinen Siegeszug auf alle deutschen Bühnen antrat.
Thomas größtes Verdienst war zweifelsohne seine außerordentliche Fähigkeit, mit der es ihm gelang, Sprache und Wesen des einfachen Volkes einzufangen.
Hinter Dachau, dem das große Moos vorgelegen ist, dehnt sich ein welliges Hügelland ... Hier lebt ein tüchtiges Volk, das sich Rasse und Eigenart fast unberührt erhalten hat, und ich lernte verstehen, wie sein ganzes Denken und Handeln, wie alle seine Vorzüge begründet liegen in der Liebe zur Arbeit und in ihrer Wertschätzung ... Es liegt eine so tiefe, gesunde, verständige Sittlichkeit in dieser Lebensführung eines ganzen zahlreichen Standes, in dieser Auffassung von Recht und Unrecht, von Pflicht und Ehre, dass mir daneben die höhere Moral der Gebildeten recht verwaschen vorkam.
Vom Balkon seines Arbeitszimmers aus, wo er z. B. seine Texte für den Simplicissimus, dessen Mitherausgeber er war, verfasste, genießen wir den Blick auf den nahe gelegenen Wallberg. Schließlich aber begeben wir uns in die Jagdstube, den heimeligsten Raum. Seine Wände sind mit den Gwichtln und Krickerln von Rehböcken und Gämsen, die Thoma, der leidenschaftliche Jäger, selbst erlegt hat, geschmückt, dazwischen hängen Photographien der Familie und von Freunden. Als seine Idee von Behaglichkeit hat Thoma das Haus einmal bezeichnet. Ich kann ihn verstehen, als wir hier bei Kaffee und Kuchen auf der rustikalen Eckbank sitzen; mein Schwiegervater und sein Bekannter holen ihre Quetschn und Ziechn hervor und spielen Volkslieder. Es ist, als wäre der Hausherr selbst nur kurz zur Türe hinaus, so präsent ist er überall. Und man spürt: Da hat ein Mensch sein Zuhause im wahrsten Sinne des Wortes gefunden.
Aus den Fenstern meines Tegernseer Hauses sehe ich zu den Bergen hinüber, die das Lenggrieser Tal einschließen, und sie tragen vertraute Namen; in den Wäldern, die sich an ihren Hängen hinaufziehen, lief ich neben meinem Vater her, und das stille Forsthaus, in dem ich die Kinderzeit verlebte, liegt nicht allzu weit von hier. Wo ich auch war, und was mir das Leben auch gab, immer hatte ich Heimweh danach, immer regten sich in mir Neigungen, die aus jenen frühesten Eindrücken herstammen.
Viele Wünsche gingen mir in Erfüllung, anders und schöner, als ich erwartet hatte, auch der Wunsch, der am tiefsten in mir wurzelt: Hier leben und schaffen zu dürfen.
14 Jahre lang war ihm dieses Glück vergönnt, bevor er im August 1921 verstarb.
© by Elisabeth Schinagl 2020
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