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Rosendorfers Raben

Eigentlich gehören weder mein Mann noch ich zu den Sammlernaturen. Trotzdem verfügen wir in unserem Haus allmählich über eine beachtliche Kollektion an Eulen der unterschiedlichsten Größen und Materialien – allesamt Geschenke. Dass wir ausgerechnet mit Eulen beschenkt werden, hat seinen Grund in einer Familientradition: Besucher, die zu uns kommen, werden gebeten, sich mit einer Eule im Gästebuch zu verewigen.

Wieso ausgerechnet Eulen?  werden wir immer wieder gefragt. Die Gründe dafür sind vielfältig und verschlungen und brauchen hier nicht alle aufgezählt zu werden. Ein Erlebnis aber war gewissermaßen die Initialzündung – freilich ohne dass ich es damals geahnt hätte. Ich war 13 oder 14 und lebte mit meiner Familie in einer Reihenhaussiedlung in Taufkirchen bei München. Meine jüngste Schwester war mit der Tochter aus dem Haus schräg gegenüber, Christina, befreundet. So kam es, dass unsere Familien sich oberflächlich kannten. Und weil Rosendorfers, Christinas Eltern, noch ein Baby hatten, wurde ich einmal gebeten, als Babysitter zu fungieren. Für mich war das eine willkommene Gelegenheit, mein Taschengeld ein bisschen aufzubessern.

Obwohl ich kein besonders gutes Erinnerungsvermögen habe, ist mir dieser Abend noch heute, Jahrzehnte später, absolut lebendig vor Augen. Äußerlich glichen sich unsere Reihenhäuser wie ein Ei dem anderen. Aber ich betrat an diesem Abend eine neue Welt. Als ich kam, kleidete sich die Dame des Hauses gerade für den bevorstehenden Opernbesuch an, dem Anlass und dem Zeitgeschmack entsprechend in ein langes Abendkleid. Ich fand das todschick. Meine Eltern gingen nie in die Oper, und weil auch sonst in unserer Familie keine vergleichbaren Ereignisse stattfanden, besaß meine Mutter ein solches Kleidungsstück überhaupt nicht. Nach dem Aufbruch der Eltern, als der Kleine schlief, führte mich Christina dann ins Wohnzimmer. Wenn bis dahin schon alles neu und aufregend war, im Wohnzimmer umso mehr! Das betraf weniger die beeindruckende Bücherwand – Bücher besaßen wir ebenfalls reichlich.

Aber Rosendorfers hatten eine in meinen Augen schier unerschöpfliche Plattensammlung mit klassischer Musik. Musik, das war für mich bis dahin in erster Linie die gängige Unterhaltungsmusik, und die kam aus dem Radio, denn meine Eltern konnten sich nie aufraffen einen Plattenspieler zu kaufen. Mit Klassik war ich bis dahin nur flüchtig im Musikunterricht in der Schule in Berührung gekommen und ich hatte gar nicht geahnt, welch reiche Welt sich da auftat. Eine der Platten anzuhören traute ich mich freilich nicht. Ich hätte mangels Erfahrung auch gar nicht gewusst, wie man so eine Stereoanlage bedient. Aber beeindruckt war ich trotzdem.

Es sollte noch besser kommen. Irgendwann an diesem Abend holte Christina nämlich das Gästebuch der Familie hervor. Auch so etwas hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Wozu hätten wir so ein Buch auch haben sollen? Die Zahl unserer Besucher war eher überschaubar: Neben den Verwandten kamen in erster Linie zwei, drei befreundete Ehepaare, manchmal die Nachbarn zu uns.

Hier aber füllten die Gäste ein ganzes, stattliches Buch. Und das nicht nur in Form eines schriftlichen Eintrags, sondern durch das Zeichnen eines Raben! Rabe an Rabe drängte sich da, jeder anders, jeder von einem anderen Gast. Ich war fasziniert. Schließlich forderte Christina mich auf, auch einen zu zeichnen. Ich traute mich nicht, aber endlich gab ich ihrem Drängen doch nach und tat es unter Herzklopfen und dem unangenehmen Gefühl, dieses einzigartige, mir rätselhafte Buch zu verschandeln, wenn nicht gar zu entweihen.

Irgendwann nach diesem bewussten Abend erfuhren meine Eltern, dass Herbert Rosendorfer neben seinem Brotberuf als Jurist – nur als solchen hatten wir ihn bis dahin wahrgenommen – auch noch literarisch tätig war. Ein Künstler, ein Schriftsteller in unserer Nachbarschaft, das war etwas Neues.

Kurz darauf zogen wir aus Taufkirchen fort, aber das literarische Schaffen unseres ehemaligen Nachbarn haben meine Eltern und ich auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten aus der Entfernung immer mitverfolgt.

Als mein Mann beruflich nach Bayreuth ging, schenkt ich ihm zur Einstimmung Bayreuth für Anfänger in der Hoffnung, dass auch er dort nicht seine schlechteste Zeit im Leben verbringen sollte. Und wenn ich Champagner trinke, dann tue ich es nicht ohne ein leises Lächeln und einer inneren Verbeugung vor Kai-tai, dem chinesischen Mandarin aus dem 10.Jahrhundert, den es mittels Zeitmaschine in das München der 80er Jahre verschlägt, und seinem Lieblingsgetränk Mo-te Shang-dong.

Nirgendwo sind die gesellschaftlichen Verhältnisse Bayerns besser persifliert als in der Deutschen Suite, ja, ich behaupte, darin mehr und außerdem noch wesentlich unterhaltsamer vieles über bayerische Geschichte und Mentalität, über die mehr oder weniger zarten gesellschaftlichen Verbindungen gelernt zu haben als in mancher historischen Abhandlung.

Bei einigen Zeitgenossen fühle ich mich unfreiwillig an AntonL. erinnert, den Mann, dem wegen seines Geruchs einmal gekündigt wurde, obwohl er seinem Chef zu erklären versuchte, wie angenehm es sei, ja wohltuend, alte Wäsche zu tragen. Die Wäsche nehme mit der Zeit einen Grad von Weichheit und Schmiegsamkeit an, wie sie saubere Wäsche nie zu erreichen im Stande wäre. Sie gehe in einem auf. Man gehe in ihr auf. Man habe das Gefühl, es könne einem nichts passieren. Bedarf´s der Worte mehr?

Und weil ich zwar kein Wagner-, wohl aber ein Mozart-Freund bin und Salzburg liebe, lasse ich mich immer wieder gern im Geiste an der Hand nehmen, um die Stadt und ihre Geschichte bei der geistreichen Plauderei in Salzburg für Anfänger neu zu entdecken.

Bei aller Bewunderung für seine literarischen Werke aber ist mir vor allem das Rosendorfersche Buch mit den Raben in unvergesslicher Erinnerung. Und wenn unsere Gäste nun gebeten werden, sich bei uns mit einer gemalten oder gezeichneten Eule zu verewigen, dann ist dieses Eulenbuch mindestens zum Teil eine Reminiszenz an den geschilderten Abend.

Chapeau, Herbert Rosendorfer!

© by Elisabeth Schinagl 2020

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