· 

Die Hure auf dem Kaiserthron

Fast genau ein Jahr nach Theoderich war in Konstantinopel auch der oströmische Kaiser Justin gestorben. Sein Neffe Justinian war ihm auf den Thron nachgefolgt. Justin war, freundlich formuliert, von sehr einfacher Abstammung gewesen und über eine Militärkarriere schließlich an die Macht gekommen. Böse Zungen behaupteten, er habe seine Muttersprache Griechisch nur ungepflegt und Latein überhaupt nicht gesprochen und weder lesen noch schreiben können. Doch das nur nebenbei bemerkt.

Der neue Herrscher Ostroms, Justinian, hatte unter seinem Onkel rasch Karriere gemacht. Es war ihm nach Justins Tod gelungen, seinen Rivalen um den Thron zu ermorden und sich an die Spitze des Reichs zu setzen. Bereits vor seiner Thronbesteigung hatte er sich mit einer gewissen Theodora verheiratet. Wenn wir unter uns gewesen waren, hatte Amala diese Frau stets als die „Hure auf dem Kaiserthron“ bezeichnet. Das war zwar sicher nicht schmeichelhaft, entsprach aber durchaus der Wahrheit. Der Vater der jungen Kaiserin war Bärenwärter bei der Zirkuspartei der Grünen gewesen. Nach dessen Tod sah sich Theodora, deren Schönheit zugegebenermaßen augenfällig war, gezwungen, ihren Lebensunterhalt als „Schauspielerin“ zu verdienen. Jeder wusste, was sich unter dieser Berufsbezeichnung tatsächlich verbarg: Prostitution. Offensichtlich war sie in diesem Gewerbe so gut, dass ihr Justinian völlig verfiel. Ein Skandal, der dann durch die offizielle Eheschließung noch gesteigert wurde. Damit er diese zweifelhafte und wenig ehrenhafte Verbindung überhaupt eingehen konnte, war sogar eine Gesetzesänderung nötig gewesen. Denn ursprünglich sah das Gesetz vor, dass Senatoren keine Frauen von zweifelhaftem Ruf heiraten durften.

Doch Theodora schaffte nicht nur das. Ihr Einfluss auf den Kaiser war immens. Und wenn Amala als die Stellvertreterin ihres Sohnes im Verborgenen regierte, so sagte man von Theodora, sie sei über das Schlafgemach ihres Mannes die heimliche Regentin Ostroms. Ich will ihr damit nicht die Schuld an den kommenden Ereignissen zuschreiben. Dafür war schon Justinian selbst verantwortlich. Doch soll dir diese Erklärung ein Bild von der Lage in Konstantinopel vermitteln. Eine Lage, die auch uns im Westen unmittelbar betraf. Theodora war wie gesagt in der Tat eine außergewöhnlich schöne Frau, schlank und von hohem Wuchs. Sie hatte ein schmales, ebenmäßiges Gesicht mit großen, sehr dunklen Augen und vollen, wohl geformten Lippen. Ihre anmutigen Bewegungen und die kerzengerade Haltung verrieten auch Jahre später noch ihre frühere Betätigung als Schauspielerin und Tänzerin. Zweifelsohne wusste sie, dass ihre Schönheit ihr wichtigstes Kapital war, und tat alles dafür, sich dieses möglichst lange zu erhalten. Als ich sie erstmals zu Gesicht bekam, war sie bestimmt schon an die vierzig. Trotzdem war ihre Haut noch makellos, ihr Haar voll und überaus sorgfältig frisiert. Was ihre äußere Erscheinung anbetraf, überragte sie Amala bei weitem. Sie hatte auch eine sehr angenehme, fast einschmeichelnde Stimme. Ich gebe zu, dass ein Mann leicht ihrem Zauber verfallen konnte.

Aus: Elisabeth Schinagl, Die geheime Akte des Cassiodor