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Die betrogene Generation

Den Schriftsteller Max von der Grün habe ich bis vor kurzem ausschließlich mit dem Ruhrpott in Verbindung gebracht. Was ich nicht wusste: Von der Grün wurde 1926 in Bayreuth geboren und wuchs in Schönfeld bei Mitterteich auf. Eine harte Zeit, acht Jahre nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Grün ist das Kind armer Eltern, seine Mutter ist Dienstmagd, sein Vater Schuhmachergeselle ohne feste Anstellung. Weil die Mutter arbeiten muss, wächst der Junge bei seinen Großeltern auf. Arbeit gibt es in dieser Zeit kaum. Wer Glück hat, kommt in der Porzellanindustrie unter.

In seinem Buch Wie war das eigentlich? beschreibt von der Grün seine Kindheits- und Jugenderlebnisse in dieser Zeit des heraufziehenden Nationalsozialismus und schließlich des Dritten Reichs. Es ist der Versuch, das Schreckliche in Worte zu fassen, der Versuch anhand individueller Erlebnisse den Machtmechanismus des Regimes darzustellen.

Erlebte Geschichte von ihrer dunkelsten Seite, über die zu schreiben auch mir als Nachgeborener heute noch schwer fällt.

Was weiß ich von dieser Zeit? Ich meine damit nicht das Faktenwissen, was man aus Geschichtswerken kennt. Was weiß ich über das Leben von Durchschnittsmenschen wie meiner Großeltern, Eltern, Onkel, Tanten, Schwiegereltern zu dieser Zeit? Sicher, meine Großeltern haben mit manchmal von der Hitlerzeit erzählt, von einem fanatischen Bürgermeister beispielsweise, von Nachbarn, die ihre Schulden bei jüdischen Geschäftsleuten nicht mehr bezahlt haben; wie mein Opa verhindern konnte, in die Partei einzutreten. Und doch stelle ich heute fest, dass ich erschreckend wenig darüber weiß, wie es der Familie damals wirklich gegangen ist. Meine Mutter wurde 1939 geboren, ihre Erinnerung an die Nazizeit ist dementsprechend gering. Die Schrecken des Krieges, Bombardierung oder Nahrungsmittelknappheit hat sie in Greding, ihrem Geburts- und Wohnort, nicht miterleben müssen. Die großen Brüder waren zwar im Krieg, aber die Familie hatte Glück: Keiner ist gefallen.

Die Erinnerung meiner Mutter an diese Zeit ist vor allem durch eine Episode kindlicher Unschuld geprägt: Ebenso wie Hitler wurde sie an einem 20. April geboren. Jedes Jahr zum Geburtstag des "Führers" war die Beflaggung aller Häuser anbefohlen und meine Mama wuchs in der festen Überzeugung auf, dass all die Fahnen in der Stadt ausschließlich zu Ehren ihres Geburtstags gehisst wurden. Nicht nur das – die Beflaggung "zu ihren Ehren" brachte ihr auch einen unglaublichen Prestigegewinn bei ihrer Freundin Erna.

Wenn ich hier die Erinnerungen meines Vaters nicht erwähne, so deshalb, weil er durch die Gnade der späten Geburt keine hat. Er wurde erst 1942 geboren.

Von der Grün war bereits 13 Jahre, als meine Mutter geboren wurde, war. Entscheidende , prägende Jahre unter einem Terrorregime, das sich ganz bewusst auch die Kinder zu eigen machen will. Selbst lesen und schreiben lernen wird zu Propagandazwecken missbraucht.

Wir helfen.

Hör', Ursel, da ist einer an der Tür!

Wer mag das sein?

Heil Hitler, Ursel!

Heil Hitler, Onkel Weber!

Ulrich und Günter, ihr? Und in Uniform? Und bei solchem Wetter?

Wir sammeln für die Winterhilfe. Habt ihr auch etwas?

Von der Grün beschreibt, wie sich die Politik sich zunehmend auch in die privatesten Lebensbereiche einschleicht, wie sie Familien entzweit und Freundschaften bestimmt. Ein Riss geht durch seine Familie:Von der Grüns Vater und Großvater lehnen die Nazis ab, aber sein Onkel und eine Tante sind begeisterte Anhänger. Dieses Phänomen ist nicht selten, aber natürlich gibt es mindestend genauso häufig Familien, in denen die Kinder wie selbstverständlich in die Ideologie hineinwachsen, weil ihre Eltern sie ihnen wie vorleben.

Zu Beginn des zweiten Schuljahres kamen in unsere Klasse schon einige Jungen in der Uniform des Jungvolks ... Wir Kinder wussten sehr wohl, dass die Väter dieser Jungen der SA, der SS oder anderen Naziorganisationen angehörten. Natürlich gefielen sich die Jungen in der Uniform.

Und dann gibt da noch die organisierte Freizeit, das Jungvolk und die Hitlerjugend. Wer nicht mitmacht, wird zum Außenseiter und gehänselt.

Natürlich wollte ich gerne dabei sein, alle meine Schulkameraden machten mit... Manche fanden böse Worte dafür, dass ich nicht mitmarschierte.

Aber heimlich ging ich doch mit. Ich stahl mich von zu Hause fort und marschierte in meiner Lederhose in der letzten Reihe... Das Abenteuer lockte mich, das Jungvolk marschierte in wälder, schlug Zelte auf, machte Biwak, auf offenem Feuer wurde Eintopf gekocht und in den Wäldern wurde Krieg gespielt: Schwarz gegen Weiß.

Nur einige Jahre später sollte für viele dieser Kinder aus dem vermeintlichen Spiel blutigster Ernst werden.

1938 wird von der Grüns Vater verhaftet und schließlich in das KZ Buchenwald gebracht. Sein "Verbrechen": Er lehnt das Regime aufgrund seiner christlichen Überzeugung ab und hatte heimlich illegale Zeitschriften aus der nahe gelegenen Tschechoslowakei nach Deutschland geschafft. Sein Sohn erlebt mit, wie man seinen Vater abführt. Noch am selben Tag noch steht er in der Menschenmenge, die jubelnd Hitlers Fahrt nach Eger begleitet.

Ich weiß, dass es ein schöner Tag war. Die Menschen waren entweder in Uniform oder in festlicher Kleidung gekommen... Ich stand neben den Jubelnden und hob auch meinen Arm. Ich weiß jedoch nicht mehr, ob ich auch "Heil" gerufen habe. Möglich ist es, weil mir von meiner Mutter klargemacht worden war, dass man bei bestimmten Gelegenheiten mit den Wölfen heulen müsse, um nicht von ihnen gefressen zu werden.

Auf Geheiß seiner Mutter tritt Max nach der Verhaftung seines Vaters schließlich doch in die Hitlerjugend ein. Die Mutter versucht so weitere Repressalien gegen ihren Sohn zu verhindern. Leicht hat er es trotzdem nicht. In der Schule wird er diskriminiert und ausgegrenzt. Und doch gibt es auch andere Menschen, Menschen, die sich dem Regime still widersetzen.

Eines Tages ging mein Deutschlehrer mit mir zusammen nach dem Unterricht nach Hause, da wir in der gleichen straße wohnten. Vor unserem Haus gab er mir ein in Zeitung eingewickeltes Päckchen. Beschwörend sagte er mir, ich dürfe es niemandem zeigen und mit nimandem darüber sprechen.

Das Päckchen enthielt ein Buch. Stefan Zweigs "Sternstunden der Menschheit". Für mich war es die Sternstunde meines Lebens: Ich begann bewusst zu lesen. Ich fing an, mich für Geschichte zu interessieren, und das las sich alles ganz anders als das, was wir im Unterricht hörten... Mein Deutschlehrer hatte mir durch Literatur die Augen geöffnet. Im Kohlenkeller hinter den Stößen des Winterholzes hatte er seine Bücher versteckt, die zu besitzen lebensgefährlich war.

Was wurde aus diesen Kindern, diesen Jugendlichen, denen wenige Zeit später auf brutalst mögliche Art die Augen geöffnet wurden? Zu welche Gräueltaten hat das Regime diese Belogenen, Betrogenen, Geblendeten aufgehetzt und ihrerseits zu Schuldigen gemacht?

Und wie war das eigentlich nach 1945, als die Welt buchstäblich in Trümmern lag, und viele aus einem wahren Blutrausch erwachten?

Das erste Buch meiner Mutter kommt mir wieder in die Hände, 1950, das Weihnachtsgeschenk ihres großen Bruders an sie: Familie Stiefel und ihre Freunde. Nur fünf Jahre nach dem Krieg scheint alles nur ein böser Traum gewesen zu sein. Die deutsche Familie Stiefel lebt in Amsterdam (wie ist sie da hin gekommen?) wie die Made im Speck. Essen, was das Zeug hält, lautet die Devise. Die Tische biegen sich unter den aufgetürmten Leckereien.

Da standen die blinkenen Tassen, vom Teelichtchen leicht angewärmt, das Sahnekännchen und die gefüllte Zuckerdose mit der silbernen Zange... Dabei ließ der Vater seinen Blick forschend über den reichbeladenen Frühstückstisch schweifen, um zwischen all den süßen Brotbelagen wie Honig, Marmelade, Negernüßchenpaste, zerstampfte Aniszuckerstreusel und Schokoladenkrümel, was alles für die Kinder bereit stand, die Platte mit dem Käse zu suchen, die neben Schinken, Frühstücksspeck und Leberwurst ... zu finden war.

So geht das über Seiten hinweg. Das Wirtschaftswunder hat im Kinderbuch Einzug gehalten. Die Familie Stiefel lebt vor, wie man es mit Fleiß und Strebsamkeit zu Wohlstand bringt. Kein Wort davon, was nur wenige Jahre zuvor passiert ist, nichts mehr von den Schrecken des Krieges. Wie hat meine elfjährige Mutter dieses Buch damals gelesen? Hat sie auch nur im Ansatz verstanden, was geschehen war?

Traumatisiert kehrten noch halbe Kinder aus Krieg und Gefangenschaft zurück, oft versehrt an Leib und Seele.Von der Grün war 1943 eingezogen worden, da war er gerade mal 17. Er geriet schnell in amerikanische Gefangenschaft, landet nach seinem Kriegseinsatz in der Bretagne in einem Auffanglager in Schottland und dann drei Jahre in Camps in den USA. 1946 wird er schließlich entlassen und kehrt nach Mitterteich zu seinen Eltern zurück, in ein Land, das buchstäblich in Trümmern liegt. Die Überlebenden dieser betrogenen Generation stürzen sich geradezu in die Arbeit. Sie bauen auf, wollen den neuen Wohlstand im Wirtschaftswunderland genießen – und schweigen. Noch Jahrzehnte später wollen, können die allerwenigsten darüber reden, was sie erlebt haben. Eine kollektive Verdrängung, für viele bis zu ihrem Lebensende.

Von der Grün schweigt nicht. Anfang der 50er Jahre geht von der Grün in den Bergbau, weil es in Mitterteich und Umgebung noch kaum Arbeit gibt. Das Ruhrgebiet, Dortmund, wird ihm nicht nur zur literarischen Heimat. Die Welt der Kumpel und Arbeiter wird sein Thema. Von der Grün bleibt unbequem. Er hinterfragt das bedingungslose Leistungsdenken und die Konsumgesellschaft. Seine Kritik an Arbeitgebern und Vertretern der IG-Bergbau im Roman Irrlicht und Feuer bringt ihm die fristlose Kündigung. So wird aus dem Arbeiter ein freier Schriftsteller.Viele seine Werke werden verfilmt.

Von der Grün starb am 7. April 2005 in Dortmund. In Bayreuth erinnert heute eine Gedenktafel an seinem Geburtshaus Hinter der Kirche 1 an ihn.

© by Elisabeth Schinagl 2020

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