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Fremd

Das mittelfrankische Städtchen Zirndorf ist deutschlandweit vor allem für sein Aufnahmelager bekannt. Wie Strandgut werden Menschen aus aller Herren Länder hier angeschwemmt. Sie verbindet bei allen kulturellen, ethnischen, religiösen und persönlichen Unterschieden einzig und allein der traurige Umstand, fremd in diesem Land Deutschland zu sein.

Seltsamer Zufall, dass sie ausgerechnet nach Zirndorf kommen - oder besser gesagt, dass sich ebendieses Auffanglager ausgerechnet in Zirndorf befindet. Der Ort hat für mich nämlich vor allem Bezug zu einem Autor, dessen Familie seit Generationen in diesem Land heimisch war, und hier nach eigenen Empfinden doch immer fremd blieb:

Jakob Wassermann. Obwohl er als Schriftsteller gefeiert und international erfolgreich ist, bleibt der Jude Wassermann zeit seines Lebens in dem schmerzlichen Gefühl der Fremdheit gefangen.

Ohne Rücksicht auf die Gewöhnung meines Geistes ... will ich mir — gedrängt von der inneren Not der Zeit — Rechenschaft ablegen über den problematischsten Teil meines Lebens, den der mein Judentum und meine Existenz als Jude betrifft, nicht als Jude schlechthin, sondern als deutscher Jude, zwei Begriffe, die auch dem Unbefangenen Ausblick auf Fülle von Missverständnissen, Tragik, Widersprüchen, Hader und Leid eröffnen ... Unabweisbar trieb es mich, Klarheit zu gewinnen über das Wesen jener Disharmonie, die durch mein ganzes Tun und Sein zieht...

So beginnt Wassermann 1921, lange vor Hitlers fanatischem Anitsemitismus seinen biographischen Bericht Mein Weg als Deutscher und Jude.

Zirndorf also soll der geographische Ausgangspunkt dieser Geschichte sein, obwohl ihr Held streng genommen kein Sohn der Stadt ist. Geboren wurdeWassermann 1873 im benachbarten Fürth, der Stadt der tausend Schlöte, wie er seine Heimatstadt appostrophiert, Sein Vater war aus Zirndorf in die aufstrebende Stadt gezogen. Die Großeltern aber lebten in Zirndorf und Wassermann hat sie regelmäßig besucht, der Ort ist Schauplatz seines Romans Die Juden von Zirndorf.

Juden in und aus Franken, das sind Namen wie Leopold Ullstein, Gründer des gleichnamigen Verlags und Herausgeber der Berliner Illustrirten Zeitung, Levi Strauß, der es in den USA mit der Erfindung seiner strapazierfähigen Hose, der Jeans, zu Reichtum bringt, die Gebrüder Lehman, die sich, in die USA ausgewandert, vom ursprünglichen Gemischtwarenhandel auf das Bankwesen verlegten, oder der Adolph Ochs, Sohn des aus Fürth emigrierten Joel Ochs, der aus der fast bankrotten und kaum beachteten Zeitung New York Times eines der auflagenstärksten und renomiertesten Blätter schafft.

Da ist Carl Marschütz, der Nürnberger Industrielle, der eine florierende Fahrradfabrik gründete, oder David Morgenstern, Zinnfolienfabrikant und erster jüdischer Landtagsabgeordneter. Es sind Geschichten von wirtschaftlichem Erfolg und sozialem Aufstieg. Viele solcher Geschichten ließen sich noch anführen. Jüdische Hopfenhändler aus Nürnberg beherrschen den Weltmarkt, das Unternehmen der Gebrüder Bing beschäftigte zeitweise fast 16.000 Menschen. Wassermanns Geburtsstadt Fürth ist (im Gegensatz zum benachbarten Nürnberg) seit alters her eine judenfreundliche Stadt. Es gibt angesehene jüdische Rechtsanwälte und Ärzte hier und natürlich auch erfolgreiche Geschäftsleute und Unternehmer.

Aber es sind nicht deren Geschichten, die Wasserman erzählt. Es ist vielmehr die kaum beachtete "Kehrseite der Medaille", es ist die Geschichte der armen (Land)juden, zu denen sich auch Wassermanns eigene Familie zählen muss, von denen sein Roman handelt. Ihr denkt wohl, es gibt lauter reiche Juden?... Das ist nicht wahr. Mein Vater muss sich mehr plagen wie ihr und hat weniger Lohn. Das ist die Realität, die Wassermann beschäftigt, im Roman wie im wirklichen Leben.

Erstickend in ihrer Engigkeit und Öde die gartenlose Stadt, die Stadt des Rußes, der tausend Schlöte, des Maschinen- und Hämmergestampfes, der Bierwirtschaften, der verbissenen Betriebs- und Erwerbsgier, des Dichtbeieinander kleiner und kleinlicher Leute, der Luft der Armut und Lieblosigkeit im väterlichen Haus ... Im Umkreis dürre Sandebene, schmutzige Fabrikwässer, der trübe, träge Fluss ... schüttere Wälder, triste Dörfer, häßliche Steinbrüche, Staub, Lehm, Ginster.

Juden in Franken — das ist eine jahrhundertelange Geschichte, von der sich kaum mehr Spuren in unsere Zeit erhalten haben. Die jüdischen Friedhöfe in Pappenheim, Georgensgmünd oder Ermreuth erzählen noch davon, die allermeisten Erinnerungsstücke aber werden in Museen in Fürth, Schwabach oder Schnaittach aufbewahrt. An die Standorte der ehemaligen Synagogen erinnern oft nur noch Gedenktafeln. Jüdisches Leben in Franken, das ist oft buchstäblich verschüttet und vergessen, so wie die Rother Mikwah, das ehemalige Ritualbad, das man erst rein zufällig bei Bauarbeiten wieder entdeckt hat.

Gelebtes jüdisches Leben gibt es heute in den fränkischen Dörfern und Kleinstädten nicht mehr, die jahrhunderealte Tradition wurde durch den Wahnsinn der Nationalsozialisten brutal und endgültig ausgelöscht.

Juden in Franken — das waren an allen Orten Minderheiten, mehr oder weniger geduldet von ihrer Umgebung. Als Wassermann seinen Roman schreibt, leben in Zirndorf 86 Juden bei einer Gesamtbevölkerung von über 3000 Einwohnern.

Juden in Franken — das waren und blieben häufig Fremde über viele Jahrhunderte — Fremde in ihrer eigenen Heimat, oft misstrauisch beäugt. Jakob Wassermann hat das am eigenen Leib zu spüren bekommen, und sein Verhältnis zum Judentum bleibt ein Leben lang ambivalent.

Unversehens stand er vor der Claußschule, wo sich nur die frömmsten Juden zum Abendgebet versammelten ... Der Vorbeter an seinem kleinen Pult lallte mit zittrigem Stimmchen das Schlussgebet. Es lag etwas Gläubiges in der Art des Chassans; sonst waren nur verbissene, steinerne Gesichter hier, voll von einer jahrhundertealten Grausamkeit, voll Hass, Erbitterung und zelotischem Glaubenseifer. Agathon sah es. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde ihm klar, dass Jude sein eine Ausnahme sein heiße.

"Lasst das Judenpack versaufen", mit diesen Worten stößt der Wirt Sürich Sperling die Hauptperson des Romans, Agathon, während einer Überschwemmung absichlich aus dem Kahn. Mit dieser Aufforderung setzt mehr oder weniger die Haupthandlung ein. Es ist eine Geschichte der Ressentiments und Vorurteile, des Kampfes um Anerkennung, um Würde und gegen die geistige und materielle Enge.

Der Autor Jakob Wassermann kämpft sich auch in der Realität heraus aus dieser engen, ihn beengenden Welt. Leicht hat man es ihm dabei nicht gemacht. Aber er schafft es. Wider Erwarten möchte ich fast sagen, denn seine ersten Versuche sind nicht unbedingt vielversprechend. Er gehört nicht zu den Talenten, deren Begabung ihre Umwelt von frühester Jugend an begreift. Im Gegenteil: Die Familie ist alles andere als begeistert von seinen literarischen Ambitionen.

Eine unglückliche Kindheit in finanziell beengten Verhältnissen und mit einer strengen Stiefmutter, eine abgebrochene Kaufmannslehre, eine kurze Tätigkeit in einer Versicherung und dann eine ziellose Wanderzeit in Süddeutschland, ständig bedrängt von materieller Not und Differenzen mit der Familie — das sind die prägenden Erlebnisse seiner jungen Jahre. Wassermann hat keine gesellschaftlichen Verbindungen, er muss seinen Weg selber finden. Mit 24 Jahren, zu der Zeit lebt er in ärmlichsten Verhältnissen in München, veröffentlicht er Die Juden von Zindorf, dessen Entstehungsgeschichte er rückblickend beschreibt:

Realen Boden ... gab mir die Landschaft, die mich hervorbrachte, die fränkische Heimat. Ich schrieb das Buch ohne wissentliche Überlegung, wie man einen Traum erzählt oder wie unter einem befehlenden Diktat.Wenn mir einer gesagt hätte: das ist der bare Unsinn, was du da machst, wäre ich vielleicht erschrocken aber eigentlich überrascht hätte es mich nicht. Es entstand auf Wegen der Flucht, in Tirol, am Bodensee, in Eichstätt, dann wieder in einem tristen,entlegenen Münchner Atelier mit einer Katze als einziger Genossin...

Der Roman wird sein erster literarischer Erfolg, er bedeutet gleichzeitig auch eine Befreiung von der tristen Vergangenheit.

München — das ist um die Zeit der letzten Jahrhundertwende eines der literarischen Zentren im deutschsprachigen Raum. Die Stadt mag ihm wichtige Kontakte, ja Freunde wie Thomas Mann bieten — Heimat wird sie ihm nicht. Sein künftiger Lebensmittelpunkt wird Wien, genauer gesagt Altausee bei Wien. Seine fränkische Heimat aber, Fürth, Nürnberg, Ansbach, die umliegende Landschaft, bleiben Motiv seiner Romane.

Anerkannt, etabliert und doch fremd ist und bleibt Wassermann auch in Wien. Wassermann hat scheinbar alles: literarische Erfolge, eine Frau aus reichem Haus, eine Villa in Altausee, Urlaube und Reisen, enge Freundschaften mit dem Wiener Literatenkreis, Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr, immer wieder längere Aufenthalte in Berlin, wo Wassermann mit Samuel Fischer einen der namhaftesten Verleger im deutschsprachigen Raum hat. Fischer, selbst jüdischer Abstammung, mag Wassermanns Biographie auf weite Strecken vertraut vorgekommen sein. Er selbst war in Ungarn aufgewachsen und begab sich fast mittellos allein nach Wien, um dort eine Lehre als Buchhändler zu beginnen. Sein Weg führte ihn von Wien nach Berlin, wo er schließlich 1886 er den S. Fischer Verlag gründete.

Was viele Jahre wie ein Leben wie aus dem Bilderbuch scheint, ist es nur zum Teil. Wassermanns Ehe bleibt nicht glücklich, im Gegenteil, ein menschliches Fiasko bahnte sich an, an und mit dem Wassermann schwer trug und bis zu seinem Lebensende zu kämpfen hatte. Finanzielle Probleme trübten das Bilderbuchglück, schließlich, am Ende seines Lebens, wirft der Nationalsozialismus immer deutlichere Schatten. Die Greuel selbst erlebt Jakob Wassermann nicht mehr, er verstirbt in der Neujahrsnacht 1934, aber seit der Machtergreifung der Nazis in Deutschland verkauften sich seine Werke zunehmend schlechter, schließlich fallen sie der Bücherverbrennung zum Opfer.

Der Autor Jakob Wassermann gerät in Vergessenheit.

Und die Zirndorfer Juden ? Schon während der Weimarer Republik nimmt die Judenfeindlichkeit in der Bevölkerung zu. 1933 lebten noch 64 jüdische Personen in Zirndorf. Viele von ihnen verzogen in andere Städte, einige wanderten aus, werden wie Strandgut in die verschiedensten Länder geschwemmt, verfolgt in der Heimat führen sie ein unfreiwilliges Leben als Fremde irgendwo.

Im November 1938 am Tag des Progroms und gut vier Jahre nach Wassermanns Tod, lebten nur noch 26 Juden in Zirndorf. Am 11. November wurden sie mit einem Lastwagen aus ihrem Heimatort hinausbefördert und ihrem Schicksal überlassen. Als sie nach Zirndorf zurückgekehrt waren, wurden sie von der Stadtverwaltung unter Drohungen aufgefordert, schnellstens den Ort zu verlassen. Die letzten von ihnen verließen schließlich am 24. Dezember 1939 Zirndorf.

Eine jahrhundertealte Ttradition fand ein barbarisches Ende.

© by Elisabeth Schinagl 2018

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